Im Temporausch (Teil 4) —


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Woher kommt das unbändige Verlangen, der »schnellste Mensch der Welt« zu sein? Welchen Ursprung hat dieser Kult, der die Menschen seit der Frühzeit des Automobils in Atem hält, bis in die Neuzeit? Warum fasziniert es so, wenn Rennpiloten, den Tod im Nacken, ihr Leben aufs Spiel setzen für die wilde Hatz nach dem Geschwindigkeitsrekord, die immer auch von erbitterten Duellen geprägt war? Wimpernschläge der Zeitgeschichte.

Art Arfons

Craig Breedlove

Arfons und Breedlove

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist offensichtlich, dass Geschwindigkeiten vom mehr als 600 km/h mit Verbrennungsmotoren in Landfahrzeugen nicht zu schaffen sind. Künftige Rekorde sollen Fahrzeugen mit Schubantrieben vorbehalten sein. Es schlägt die Stunde der Bonneville-Helden, allen voran Art Arfons und Craig Breedlove.

Die beiden Amerikaner sind besessen von der Idee,
der schnellste Mensch der Welt zu sein.

Sie wollen mit aller Macht englischen Piloten die Rekorde abjagen, die seit Ende der Vierzigerjahre eine rein britische Angelegenheit sind. Mit der Offensive der Amerikaner geraten die Tempoduelle Anfang der Sechzi-gerjahre zum bitteren Wettstreit um internationalen Ruhm.
Anfang der Sechzigerjahre spielt den amerikanischen Tempotüftlern ausgerechnet das Ende des unrühmlichen Koreakriegs in die Karten. Die Kampfflugzeuge von damals sind inzwischen veraltet, werden von den US-Truppen nicht mehr gebraucht und ausgemustert. Tausende von J-79 Strahltriebwerken landen auf dem Schrott. Die bis zu 17.000 PS starken Triebwerke hatten die legendären Starfighter auf mehr als 2.200 km/h katapultiert, allerdings im Flug. Was sie mit Landfahrzeugen anstellen würden, war weder erprobt, noch wurde es jemals getestet. Den fest entschlossenen Tempotüftlern war das offenbar egal.
Art Arfons, ein Dragster- und Powerboot-Pilot aus Ohio, gilt als ein besonders argloser Vertreter dieser Ära. Bei einem Schrotthändler besorgt er sich ein Strahltriebwerk für 5.000 Dollar.

Von der Technik hat er keine Ahnung,
aber das hält ihn nicht davon ab, sie auszuprobieren.

Er befestigt das Triebwerk an einem einbetonierten Stahlträger und zündet. Der Versuch handelt ihm reichlich Ärger ein. Der Strahl hatte nicht nur sein eigenes, sondern auch die Grundstücke der Nachbarschaft auf einen Schlag ruiniert. Später gelingen Arfons mit seinem selbstgebauten »Green Monster« immerhin drei Weltrekorde, aufgestellt in der Salzwüste von Bonneville.
Dort hatte auch Craig Breedlove Aufsehen erregt, ein Rennfahrer und Garagentüftler aus Kalifornien, der seine mit Strahltriebwerken befeuerten Rekordfahrzeuge »Spirit of America« nennt. In den Sechzigerjahren ist Breedlove der erste Mensch der Welt, der die magischen Grenzen von 400, 500 und 600 Meilen pro Stunde knackt, bis heute eine Legende. Im Oktober 1964 verbessert Breedlove seinen eigenen Weltrekord gleich zwei Mal.

Der zweite Versuch
kostet ihn fast das Leben.

Die Bremsfallschirme reißen ab, bei knapp 850 km/h. Auf die Radbremse treten? Die würde bei dem Tempo verglühen. Das Fahrzeug rast über die Pistengrenze, kappt zwei Telefonmasten, bis es krachend in einen Salzteich schleudert. Das Kuriose: Breedlove wäre in der Wüste fast ertrunken. In letzter Sekunde kann er sich befreien.

Es ist ein besonderes Merkmal dieser Tempokultur, dass die vermeintlichen Helden, die mit jeder Fahrt ihr Leben aufs Spiel setzten – und oft genug verloren – immer auch Spielbälle sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Interessen waren.
Spätestens ab den Sechzigern werden Rekordversuche zunehmend zum Kräftemessen der Industrie. Vor allem das Reifen- und Rohstoffgewerbe will mit Rekorden sein Image aufpolieren, pumpt Sponsorengelder in Millionenhöhe in die Kassen der Rekord-Tüftler.
Ein Rekordfahrzeug namens The Blue Flame (heute zu sehen im Technik Museum Sinsheim) symbolisiert wie kein anderes diesen wahnwitzigen Wettbewerb und seine Auswüchse. Drei Tonnen schwer, 58.000 PS stark, eher Rakete auf Rädern als Fahrzeug.
Mitte der Sechzigerjahre mischt sich die amerikanische Gasindustrie in die Tempoduelle ein. Man will den erdölverliebten Amerikanern auf spektakuläre Weise vorführen, dass Gas sauberer und leistungsfähiger ist als Sprit oder Kerosin und nicht nur zum Befeuern altmodischer Gasheizungen taugt. Ein Jahrhundertrekord soll den Amerikanern Erdgas schmackhaft machen und für Profite sorgen.


Als Fahrer ist Gary Gabelich vorgesehen, ein damals weitgehend unbekannter Dragster-Pilot aus Long Beach, Kalifornien, Typ Draufgänger, Frauenheld, teilweise Werbefigur für die Mondmission.
Man will nicht nur Craig Breedloves fünf Jahre alten Rekord von 966 km pro Stunde knacken, man will die dritte Null, die Tausend.
Der 23. Oktober 1970. Der Höllenritt steckt voller Risiken. Tests im Windkanal hatten gezeigt, dass The Blue Flame theoretisch Tempo 1.500 schaffen kann, schneller als der Schall. Niemand weiß, ob die Sache gut geht. Für den Fall einer Tragödie hatte man für Fahrer Gabelich eine Lebensversicherung über 100.000 Dollar abgeschlossen.
Das Unternehmen gelingt: 622 Meilen, der Mittelwert aus zwei Fahrten, das sind mehr als 1.001 Kilometer pro Stunde. Es ist kein Rekord für die Ewigkeit, die Briten übertrumpfen ihn 1983 und sind 1997 sogar schneller als der Schall. Aber kein Temporekord, aufgestellt von einem Amerikaner, hatte länger Bestand, keiner hatte sich derart ins Gedächtnis gebrannt, wie jener von The Blue Flame. Ein Ruhm, von dem Gary Gabelich nicht lange profitiert. 1984 stirbt er 43-jährig bei einem Motorradunfall.
Heute sind die Tage von Bonneville als schnellster Flecken der Erde längst gezählt und damit auch die Ära der Rekordfahrten. Die wilden Duelle um den Rekord sind Geschichte, als solche bis heute faszinierend.

Fotos Thorsten Link

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