Im Temporausch (Teil 2)


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Woher kommt das unbändige Verlangen, der „schnellste Mensch der Welt“ zu sein? Welchen Ursprung hat dieser Kult, der die Menschen seit der Frühzeit des Automobils in Atem hält, bis in die Neuzeit? Warum fasziniert es so, wenn Rennpiloten, den Tod im Nacken, ihr Leben aufs Spiel setzen für die wilde Hatz nach dem Geschwindigkeitsrekord, der immer auch von erbitterten Duellen geprägt war? Wimpernschläge der Zeitgeschichte.

Gaston de Chasseloup-Laubat, 1899

Jenatzy, »der Rote Teufel«

Ein Getriebener

Einen dieser »Geschwindigkeitsmenschen« nannte man den Roten Teufel: Camille Jenatzy, Jahrgang 1868, Spross eines bedeutenden belgischen Reifenfabrikanten, Rekordfahrer und der erste Mensch, der schneller als 100 Kilometer pro Stunde fuhr, vor mehr als 120 Jahren.
Jenatzy ist ein Getriebener, schon in jungen Jahren, als er ein Ingenieurstudium absolviert. Er betreibt den damals populären Fahrradsport, aber das genügt ihm nicht. Ende der 1890er Jahre wendet er sich dem Bau von Elektrofahrzeugen zu. Es geht ihm um die Beschleunigung. Ende des 19. Jahrhunderts ist die Dampflok das Maß der Dinge. Zuschauer, die mit dieser zu Rennveranstaltungen reisen, sind schneller unterwegs, als die Rennfahrer selbst. Ein für Camille Jenatzy offenbar unerträglicher Gedanke.

Ende der 1890er Jahre
wendet er sich dem Bau von Elektrofahrzeugen zu.

Die Schlagzeilen jener Zeit gehören allerdings nicht dem Heißsporn Jenatzy, sondern einem adeligen Franzosen:
Graf Gaston de Chasseloup-Laubat (1867-1903). Im Dezember 1898 stellt der den ersten dokumentierten Geschwindigkeitsrekord auf. Mit einer pferdelosen Kutsche schafft er Tempo 63.
Dem jungen Camille lässt das keine Ruhe, er fordert den Adeligen zum Duell. Für den Zweck entwickelt Jenatzy fest entschlossen das erste Fahrzeug, das jemals speziell für ein Rennen konstruiert wurde, mit der Anmutung eines Torpedos. Jenatzy tauft es »La Jamais Contente«, die niemals Zufriedene. Das einst schnellste Straßenfahrzeug der Welt hat keinen Kühler, keinen Auspuff – auch dieses Jenatzy-Auto fuhr elektrisch. Ende des 19. Jahrhunderts ist noch lange nicht entschieden, welche Antriebsart das Rennen macht. Dampfwagen mussten mühsam vorgeheizt werden, Benzinfahrzeuge galten als pannenanfällig, sprangen meistens nicht an und sorgten für schlechte Luft.
Der 29. April 1899. Eine Rennpiste nördlich von Paris in Achères. Camille Jenatzy rollt sein Torpedo an den Start. Eine Leichtbaukonstruktion aus hochmodernen Material und stabilem Chassis. Das ist auch nötig, denn das Herzstück des verrückten Vehikels ist die mächtige Batterie. Sie wiegt mehr als eine Tonne. Unter den skeptischen Blicken seines Widersachers startet der Belgier mit seiner Tempomaschine auf die zwei Kilometer lange Strecke.
Den ersten Kilometer absolviert er in knapp 48 Sekunden. Aber das reicht noch nicht für den Rekord. Jetzt erst zählt die Uhr, im fliegenden Start auf dem zweiten Teilstück. Jenatzy legt es in 34 Sekunden zurück. Eifrig wird gerechnet.

Das Ergebnis raubt selbst
der Jury den Atem

Mehr als 105 km/h ist der Belgier hier gerade gefahren, ein Jahrhundertereignis. Gaston de Chasseloup-Laubat weiß, dass er diesen Bestwert mit seinem Kutschenauto niemals schlagen kann. Frustriert schüttelt er dem Sieger die Hand und legt fortan alle Rennsportaktivitäten auf Eis.
Camille Jenatzy ist neuer Rekordhalter, mit einer Fabelgeschwindigkeit, aber, so zeigt sich bald: keine Bestmarke für die Ewigkeit. Nach nur drei Jahren ist Jenatzy den Rekord schon wieder los, ausgerechnet an einen Dampfwagen. Zu diesem Zeitpunkt fährt der Draufgänger längst Autorennen, für Mercedes. Die Daimler Motoren Gesellschaft hatte Interesse an dem Heißblut gefunden. Das Engagement zahlt sich aus. 1903 siegt Jenatzy beim Gordon Bennett Rennen in Irland, dem seinerzeit wichtigsten Autorennen der Welt.
Es mag eine besonders seltsame Laune des Schicksals sein, dass der unerschrockene Belgier nicht auf der Rennstrecke sein Leben verliert, sondern bei einem harmlosen Waldausflug in den belgischen Ardennen. Sein Talent, Tiergeräusche zu imitieren, wird ihm 1913 zum Verhängnis. Ein Jäger glaubt, einen Rehbock vor der Flinte zu haben. Und drückt ab.

(Photo by Hulton Archive/Getty Images) Camille Jenatzy, im Fahrersitz, mit seiner Frau auf der Siegesparade am 1. Mai 1899. Der belgische Automobilrennfahrer hatte in seinem Elektrowagen „La Jamais Contente“ („Die niemals Zufriedene“) am 29. April 1899 in Achères bei Paris als erster Fahrer die 100-Stundenkilometer-Marke überschritten – und damit seinen Erzrivalen Gaston de Chasseloup-Laubat geschlagen.

Gaston de Chasseloup-Laubat und sein Jeantaud in Achères, vor seinem Geschwindigkeitsrekord, 18. Dezember 1898.

Die Todesnachricht in der New York Times.

Fotos Thorsten Link

 

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