Crashtest-Dummies – Die Kunst zu überleben


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Sein Name fällt ihm nicht ein, wieder einmal. Die, die ihn kurz zuvor auf den Fahrersitz geschnallt und ihm das Lenkrad in die etwas steifen Hände gedrückt haben, nennen ihn umständlich Hybrid III. Sie klopfen ihm nicht mal auf die Schulter, als sich das Stahlseil strafft und kurz darauf den schweren Wagen in der gleißend hell erleuchteten Halle beschleunigt. Direkt auf die Wand zu.

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Johnny ist ein Crashtest-Dummy. Sein Job ist es, sein künstliches für echtes menschliches Leben zu opfern. Er stirbt, aber er lebt nach kurzer Wiederbelebung weiter, als wäre nichts geschehen, das unterscheidet ihn von seinem menschlichen Vorbild. Johnny ist das gewohnt, seine Betreuer päppeln ihn immer wieder hoch. Er und seine weltweit vielen hundert Brüder, Schwestern und Kinder – fast alle aus der berühmten Hybrid-Familie – sind vollgestopft mit sensiblen Messfühlern, Kabeln und Datenbussen. Sein wertvolles Inneres zeichnet jede Verzögerung, jeden Ruck, jede Beschleunigung in diesen entscheidenden Millisekunden auf, in denen ein eben noch intaktes Auto zum grotesk verformten Wrack zerschellt. Draußen, auf der Straße, wäre jetzt unendliches menschliches Leid die alltägliche Folge. Hier drinnen nicht. Hier zählen nur Daten, Filme, Fotos, Computerschriebe. Danach wird aufgeräumt. Feierabend.

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Zwischen 30.000 und 300.000 Euro kosten er und seine Leidensgenossen.

Wenn man so teuer ist, wird man mit Respekt behandelt. Johnny ist 1,75 Meter groß und 78 Kilogramm schwer und hält sein Gewicht, Ernährungsprobleme kennt er nicht. Dennoch ist sein inneres Gefüge dem menschlichen Körper nachempfunden. Er und seine identischen Kollegen müssen in ihren biomechanischen Eigenschaften mit dem menschlichen Körper möglichst übereinstimmen. Mit Rippen aus Stahl, Muskeln aus Plastik und einem Hals aus Gummi. Bald sollen sogar Wirbelgelenke und Bandscheiben nachgebildet werden. Johnny ist eben mehr als eine Puppe, fast ein künstlicher Mensch. Fast. Denn er ist in vielen Dingen völlig teilnahmslos, wirkt oft apathisch, starrt ins Leere.

Johnnys größte Tugenden sind seine Geduld und sein Überlebenswille. Manchmal bekommt er spezielle Kleidung verpasst, standardisiert und aus Baumwolle, wie es Vorschrift ist in diesen sündhaft teuren Crashtests. Bis zu fünfzig Exemplare eines jeden neuen Pkw zerschellen im Dienste der Sicherheit, ehe der Serienanlauf beginnen kann. Kürzlich hat Johnny während einer Diskussion im Testlabor mitbekommen, dass seit den Anfangstagen des Automobils weltweit zwanzig Millionen Menschen bei Autounfällen ums Leben gekommen sind. Selbst heute noch bis zu 40.000 allein in Europa jedes Jahr. Das hat selbst ihn nicht kalt gelassen, kurz vibrierte sein unsichtbares Augenlid. Noch in den Fünfzigern galten Autounfälle nach Meinung mancher Hersteller als «nicht überlebbar». Versuche mit menschlichen Leichen waren üblich, jedoch kaum reproduzierbar und moralisch bedenklich. Der Crashtest-Dummy war eine geniale Erfindung der Sicherheitsforschung, 1976 war das. Vielen Menschen hat sie das Leben gerettet und zu den heutigen Sicherheitsstandards beigetragen.

Gerade wird Johnny, willenlos und geduldig wie immer, neu verkabelt und kalibriert. Sprechen kann er immer noch nicht, die Lippen seines teuren Kunstkopfs bleibenverschlossen. Vielleicht ist das gut so. Denn sonst würde er den Menschen erzählen, wie es ist, einen Horrorcrash zu überleben.

Und sie könnten ihn beneiden.

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