Bentley verabschiedet den Mulsanne


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Mit dem Mulsanne hat Bentley 2020 ein Auto vom Markt genommen, das viel gemein hatte mit der Monarchie im Allgemeinen und den Windsors im Besonderen. Schließlich war das frühere Flaggschiff der Briten ebenso exklusiv wie exzentrisch und wirkte immer ein wenig aus der Zeit gefallen. Obwohl Konzernmutter VW ihn regelmäßig modernisiert hat.

Exklusiv, exzentrisch und ein wenig aus der Zeit gefallen.

Dass die Wurzeln des Wagens ins Jahr 2005 zurückreichen, als die Entwicklung für den Nachfolger des noch mit dem Rolls-Royce Silver Seraph blutsverwandten Arnage begonnen hat, und dass der Mulsanne bereits seit 2009 auf dem Markt ist, sieht man dem royalen Riesen zumindest von außen nicht an. Denn nach wie vor – oder vielleicht sogar mehr denn je – imponiert der Mulsanne bei der Ausfahrt zum Abschied mit einer Präsenz und einem Prunk, der dem des Buckingham Palace in nichts nachsteht. Der Kühlergrill ist imposant wie die Fassade des Stadtschlosses und die LED-Scheinwerfer sind groß wie Pfannkuchen und stellen alle noch so modernen Laser- oder Matrix-Leuchten allein wegen ihres Formates in den Schatten.
Und dann erst das Profil: Auf 5,83 Meter streckt sich der Mulsanne, wenn man zu den knapp 300.000 Euro Grundpreis noch einmal etwa 50.000 Euro überwiesen und sich für den Mulsanne EWB mit Extended Wheelbase entschieden hat: 50.000 Euro für 25 Zentimeter mehr Radstand und mehr Raum, die gut angelegt sind. Denn die Briten haben den Fond zu einer exklusiven Reiselounge aufgewertet, die es mit jedem Privatflieger aufnehmen kann. Auf Knopfdruck surrt deshalb der Beifahrersitz nach vorne und wie sonst nur im Maybach wird der Thronsessel in der zweiten Reihe zu einer Liege, die einem sanft den Rücken krault und die Kehrseite wärmt. Wer sich den Müßiggang in den wunderbar weichen Kissen allein nicht leisten will, der checkt auf den elektrisch ausfahrbaren Bildschirmen schnell noch die Aktienkurse oder klappt aus dem Mitteltunnel zum Arbeiten einen der zwei Tische heraus, die mit ihrem Ballett aus fast 800 Einzelteilen schon allein eine Schau sind.
Doch ist der Mulsanne nicht ganz so schnell wie ein Privatjet und auch mit der neuen Online-Navigation ist man auf Straßen angewiesen und deshalb bisweilen vom Stau bedroht. Doch es gibt ein paar gute Gründe, die trotzdem für die Flughöhe Null sprechen – das noch einmal softere Fahrwerk, das einen wie auf Wolken bettet aber anders als der Flieger keine Turbulenzen kennt. Und die himmlische Ruhe an Bord, die Bentley mit noch mehr Isolierung und aktiven Motorlagern bei der letzten Modellpflege im Jahr 2016 sogar noch einmal gesteigert hat. Hätte das Auto noch eine echte, mechanische Uhr – ihr Ticken wäre wahrscheinlich das einzige, was man im Fond noch hören würde.
So kuschelig und gemütlich es auf den Liegesesseln auch sein mag, so gerne man sich den gekühlten Champagner in die maßgefertigten Kelche füllt, so dringend die Akten auf dem noblen Klapptischchen auch sein mögen und so neugierig man mit dem Tablet-Computer spielt, der auf Knopfdruck aus der Rückenlehne des Vordersitzes surrt und mit einem Griff demontiert werden kann – es gibt selbst in diesem Auto ein Argument, das den Besitzer aus seiner Luxuslounge treibt und hinters Lenkrad lockt: Der 6,75 Liter große V8-Liter-Motor unter der mächtigen Haube, der als traditionellster Achtzylinder der Welt gilt. Schließlich wird er bereits seit 1959 produziert und seitdem zwar kontinuierlich weiterentwickelt, aber nie komplett ausgetauscht.

Die Ablagen sind zahlreich und solide.

Beim Mulsanne war Handarbeit Trumpf.

 

Auf nennenswerte Hilfe
der Elektronik
darf der Fahrer nicht bauen.

Zwar hat Bentley über die Jahre wenigstens einen Totwinkel-Assistenten, adaptive Scheinwerfer und einen Abstandstempomaten eingebaut. Doch den bei der bürgerlichen Konkurrenz bis in die Niederungen verbreitete Lenkeingriff für die Spurführung zum Beispiel kann der Bentley genauso wenig bieten wie eine Verkehrszeichenerkennung oder eine Einparkhilfe. Aber so ist das eben mit dem Adel – egal ob im Schloss oder auf der Straße: So richtig aufgeschlossen für Neuerungen ist der selten.
Es verwundert nicht, dass der Bau des Mulsanne eine aufwändige Angelegenheit war – selbst wenn zuletzt ein Touchscreen zumindest ein paar der fein ziselierten Knöpfe und Taster überflüssig gemacht hat, die eher vom Juwelier kamen als vom Automobilzulieferer. Über 400 Stunden dauert es, bis von Hand bald 6.000 Schweißpunkte gesetzt sind und bis die Lackierer ein knappes Dutzend Schichten der über 100 Lackfarben aufgetragen und sie zuletzt zwölf Stunden mit Schafswolltüchern poliert haben. Allein die Lederausstattung kostet 150 Stunden, von denen wiederum 37 nur auf die Kontrastnähte entfallen. Unter dem Strich haben die 700 Mulsanne-Monteure über die Laufzeit des Luxusliners fast drei Millionen Stunden Handarbeit in das Flaggschiff gesteckt – davon allein 900.000 ins Polieren und eine Million ins Vernähen des Leders. Mit dem Mulsanne verabschiedet sich ein in jeder Hinsicht majestätisches Auto.

FOTOS BENTLEY

 

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