Sieht man der Schönen ihr Alter an? Wohl kaum. Aber man kann ihr Puls fühlen, besser ihr Ticken. Mit der ersten Bewegung des Uhrzeigers begann zugleich die Indienstnahme einer neuen Kalenderscheibe an der Astronomischen Uhr in der Rostocker Marienkirche. Es ist die fünfte Scheibe an dieser aus dem Jahre 1472 stammenden Wunderuhr. Wie sonst sollen wir Zeitgenossen des Digitalen so ein Wunder an Mechanik, Astronomie, Religiosität, Mathematik und Schönheit begreifen. Zumal es die wahrlich gefährlichen Zeitläufte einigermaßen unbeschadet überstanden und immer wieder Bewunderer in ihren Bann gezogen hat, die zu Rettern wurden. Wie Manfred Schukowski, der die neue bis 2150 anzeigende Scheibe berechnet hat.
Wer zum 12-Uhr-Glockenschlag vor der Uhr steht und sich von den Geräuschen des Uhrwerkes hinfort tragen lässt, der mag für einen Augenblick all derjenigen gedenken, die einst hier lebten und wirkten. Ich lasse den Gedanken freien Lauf. Schon sehe ich die mutigen Siedler vor mir. An den Ufern des Flusses Warnow, der sich zu dieser Zeit noch in mehreren Deltaarmen ins Meer ergoss, errichteten sie die ersten Hütten. Der Name des Flusses und der Stadt sind slawischen Ursprungs.
Sie fingen Fische, fertigten, tauschten und handelten. Andere kamen hinzu, kauften im Umland dies und das, nahmen schließlich als Kaufleute der Hanse Kurs auf die Ostsee. Sie sprachen plattdeutsch und bauten eine Stadtmauer aus Backstein mit Toren und Wiekhäusern. Der Fluss brachte Reichtum und Ansehen, sodass die gotischen Kirchtürme schon bald in den Himmel wuchsen und aus der Ferne vom Kaufmannsglück kündeten. Schon lagerten in den Speichern neben Tonnen voller Heringen oder Bier und Säcken voller Getreide auch kostbare Gewürze, Zucker, Kaffee und Tabak, während eifrige Buchhalter am Pult im Kontor standen. Kaum verwunderlich, dass ein Zweig der Familie von Thomas Mann aus Rostock stammte. Wenige Schritte von der Astronomischen Uhr entfernt, befindet sich ihr Familiengrab. Während Seefahrer und Kaufleute heute kaum auf den ersten Blick zu erkennen sind, prägen Studenten das Antlitz der Stadt sicher am deutlichsten.
Denn trotz der Jubiläen ist Rostock eine junge Stadt. Das kann jeder beim Bummeln auf der Fußgängerzone zwischen dem mittelalterlichen Kröpeliner Tor und dem im Renaissance-Stil erbauten Steintor sehen. Ich beobachte diese quirlige Lebendigkeit auf dem Neuen Markt zwischen Marienkirche und Rathaus, umringt von rekonstruierten Giebelhäusern. Wenn ich mir jetzt grüne Heringe (siehe Rezept) und ein Rostocker Pils bestelle, müsste sich, historisch betrachtet, der Bogen schließen. Denn Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen – und das seit 800 Jahren!
Grüne Heringe
1 kg Heringe, 100 g Mehl, Salz und Pfeffer, 1 Zitrone, Bratfett
Die ausgenommenen und gewaschenen Heringe salzen, pfeffern und mit Zitronensaft beträufeln. Anschließend in Mehl wenden. Das Fett in einer Pfanne langsam erhitzen und die Heringe auf jeder Seite etwa zwei bis drei Minuten braten. Würziger werden die Heringe, wenn sie nicht nur mit Salz, sondern zusätzlich mit klein gehackter Petersilie und Paprika bestreut werden. Direkt aus der Pfanne servieren.
Dazu passen Roggensauerteigbrot und dunkles Bier.