Seemannsgarn oder Überlieferung? Belegt ist: Zum Fischen auf dem relativ geschützten flachen Boddengewässer verwendeten die Männer seit dem ausgehenden Mittelalter Zeeskähne, technisch im 19. Jahrhundert weiterentwickelt zu Zeesbooten. Seitlich der breitrumpfigen Segelboote war das als Zeese bezeichnete Grundschleppnetz befestigt und wurde neben oder hinter dem Boot hergezogen.
Heute sind hier, aufgereiht fast wie Perlen auf einer Kette, kleine Dörfer voller malerischer Häuser und weißer Sandstrände, Galerien, Museen und stiller Kirchen. Lange galt die Halbinsel unter Urlaubern als Geheimtipp. Diese Zeiten sind vorbei.
Und so herrscht auch in Wustrow im Sommer geschäftiges Treiben. Wer sich eine Übersicht über das Dorf verschaffen möchte, steigt auf den Kirchturm. Eine Aussichtsplattform führt ringsumher und ermöglich einen weitschweifenden Blick über Ostsee und Bodden hinweg. Das schafft Orientierung. Zumal die Kirche von Wustrow auf einer kleinen Anhöhe liegt. Der Sage nach ließ ein Riese diesen Hügel in einer Nacht von seinem Pferd anhäufen. Der slawische Name Swante Wustrow, sprich Heilige Insel, bewahrt die Geschichte. Christliche Neusiedler errichteten im 13. Jahrhundert ihre Kirche am selben Ort. Die Erinnerung an die alten Götter sollte ausgelöscht werden. 1873 ersetzte eine neogotische Backsteinschönheit das alte Gotteshaus.
Vorbei an der Kirche geht es hinunter zum Boddenhafen. Alte Zeesenboote sind flottgemacht, laden statt zum Fischen, zum Schauen und Tagträumen auf dem trügerisch ruhigen Wasser ein. Wer zu früh da ist, muss am Räucherofen warten. Der qualmt vielversprechend. Ein bedächtig hantierender Fischer ist hier am Werk. Öffnet er den Ofen, reißt die Schlange der geduldig Wartenden nicht ab bis der Rauchfang leer ist. Fotografierend wechseln sich die Touristen ab. Nicht zuletzt die typischen bunten Reetdachhäuser sind reizvolle Motive.
Nach der Boddentour geht’s Richtung Dorf, dann hinter dem Kaiserlichen Postamt abgebogen zur Ostsee, die einst Arbeit und Brot auf harte Weise bot. Mit dem großen Zeitalter der Ostsee-Segelschifffahrt, das um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzte, verließen viele Jungen ihre Heimat. Sie befuhren als Matrosen auf Handels- und Kriegsschiffen die Weltmeere. Aus begüterten Familien stammende Männer hatten nach der Absolvierung einer Navigationsschule die Aussicht, Steuermann oder Schiffer auf eigenem Segler zu werden. Die Sozialstruktur der ganzen Halbinsel wandelte sich grundlegend: aus Bauern- und Fischerdörfern wurden Seefahrerdörfer. Im 19. Jahrhundert erwirtschafteten viele Schifferfamilien durch die prosperierende Segelschifffahrt, die dem nahen Rostock neben Hamburg und Bremen eine der größten Segelflotten bescherte, einen bescheidenen Wohlstand. Zahlreiche der vielfarbig geschmückten Türen in Wustrow stammen aus dieser Epoche.
An diese Zeit erinnert ein Gebäude, das keiner übersehen kann. Wer vom Festland kommt, erkennt den wuchtigen Bau schon von Weitem. Es war einst die Seefahrtschule, zuletzt Hochschule für Seefahrt Warnemünde-Wustrow, an der zwischen 1949 und 1990 rund 8000 Studenten als Kapitäne, nautische Offiziere und Techniker ausgebildet worden waren. Seine Ursprünge gehen auf das Jahr 1846 zurück, als die „Großherzogliche Navigationsschule zu Wustrow auf dem Fischland“ gegründet wurde, und die Ausbildung im ehemaligen Gebäude der Küsterschule stattfand. Schon 1848 konnte auf dem Stegberg das neue Gebäude eröffnet werden. Ungewöhnlich in seinen Dimensionen galt es als „graues Schloss am Meer“. 1871 fand per kaiserlichem Erlass eine Umbenennung in „Seefahrtschule Wustrow“ statt. So nennen es viele Fischländer noch heute, auch wenn die zivile maritime Ausbildung nach mehr als 150 Jahren 1992 mit der Schließung der Ausbildungsstätte endete. Stattdessen können seit 2020 Gäste in modernen Ferienappartements ihr Quartier aufschlagen. Und das tun sie, Jahr für Jahr.
www.ostseebad-wustrow.de
Fotos picture alliance: dpa/dpa-Zentralbild Jens Büttner, Daniel Kühne