Die rote Telefonzelle als treuer Begleiter im Alltag


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Wie tauscht man Neuigkeiten aus, wenn das Handy als Erfindung noch in weiter Ferne liegt, man sich selbst als deutscher Gaststudent in Bristol wiederfindet und die Vermieterin (nennen wir sie Elaine) die Nutzung ihres Telefons selbstverständlich strikt untersagt?

Wir schreiben das Jahr 1988, und den Weg zur nächsten roten Telefonzelle werde ich in den kommenden sechs Monaten fast täglich gehen: Von der so oft zitierten britischen Zurückhaltung merke ich auf dem Campus nicht allzu viel. Im Gegenteil – die Kommilitonen nehmen den Neuen recht freundlich auf, zumal erstaunlicherweise der ein oder andere noch Verbindung zu einem früheren Gaststudenten aus „Saarbrucken“ hat. Verabredungen spricht man telefonisch ab, und natürlich will die Mutter im Saarland ab und an „live“ wissen, wie es dem gerade 22 gewordenen Filius geht. Alles easy. Dass ich beim ersten Versuch im Waschsalon meine komplette Garderobe inklusive Jeans um eine Größe geschrumpft und in einheitliches Zartrosa getaucht habe, muss ich ja nicht gerade durch den Hörer tröten. Auch nicht meine Fast-Kollision zu Fuß mit einem „Doppeldecker“-Bus nach sehr viel Cider …

Eine Herausforderung ist es, immer genügend Münzen parat zu haben. Flatrate? Von wegen. Gerade bei Auslandsgesprächen ist der Fernsprechapparat geradezu gefräßig. Aber die meisten Telefonate führe ich ja innerhalb von Bristol, zum Glück. Vor allem mit Mehmet. Er ist ein Jahr jünger als ich, in der Türkei geboren, in Deutschland, genauer: In Hessen aufgewachsen und absolviert an der University Of Bristol seit kurzem ein Vollzeitstudium. Mehmet ist recht kontaktfreudig und nimmt mich selbstverständlich unter seine Fittiche. Von meiner anfänglichen Schüchternheit im Gastland ist so nach wenigen Wochen nicht mehr allzu viel übrig. Die rote Telefonzelle dient mir immer häufiger dazu, Treffen zu vereinbaren, auch kurzfristig.

Wie wichtig sie mir tatsächlich geworden ist, erfahre ich eher beiläufig. Denn anders als in der legendären deutschen Fernsehserie „Ein Herz und eine Seele“ (nach dem britischen Vorbild „Till Death Us Do Part“) ist „meine“ Telefonzelle natürlich nicht anrufbar. Wer mich von sich aus erreichen will, muss wohl oder übel den Anschluss meiner Vermieterin Elaine anwählen. Und ob ich dann gerade dort „upstairs“ bin, ist Glückssache. Meine Vermieterin jedenfalls wird ob der sich häufenden Anrufe für mich zunehmend ungnädig. Ihre anfängliche Freundlichkeit, so zuckersüß wie die Krapfen, die sie mir zum Empfang kredenzt hatte, entpuppt sich mehr und mehr als Fassade. Aber zu ihrer Ehre – das britische Backwerk hat’s in sich. Eine „teatime“ – und man kann das Abendessen getrost ausfallen lassen.

Wie unkommod Elaine wirklich ist – auch das verrät mir Kommissar Zufall. Mehmet habe angerufen und ich solle zurückrufen, knurrt Elaine mir eines Tages hinterher, als ich gerade das Haus verlasse. Egal wohin ich will, jetzt erst mal – richtig, zur roten Telefonzelle da hinten. „Na endlich“, sagt Mehmet. „Beeil Dich und komm her, ich hab zwei Theaterkarten für THE LITTLE PRINCE.“

Die Bitte um einen Rückruf hat Elaine mir erst Stunden später ausgerichtet, deswegen habe ich Mehmet so lange warten lassen. „Sie hat mir übrigens einen langen Vortrag gehalten, ihr Telefon sei ein privates.“ Aha. Er solle also nicht mehr anrufen, hat sie ihm damit verschlüsselt mitgeteilt. Elaine war es schlicht lästig, Anrufe für mich entgegenzunehmen und mir gegebenenfalls eine Notiz zu schreiben. Muss ich auch meiner Mutter sagen. Mehmet guckt mich verdutzt an, als ich ihm Elaines Botschaft quasi übersetze: „Echt? So zickig ist sie? Ich wusste gar nicht, was das sollte und hab ihr gesagt: Ich will doch Ihr Telefon nicht verstaatlichen, ich will nur mit Roland reden!“ Mein Lachanfall über diese Antwort fällt in der gedämpften Atmosphäre des kleinen Theaters sicher sehr unbritisch-undezent aus. Aber „meine“ Telefonzelle liebe ich fortan noch mehr. Die ist immerhin so gar nicht zickig.

Foto ISTOCKFOTO.COM

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