Von Krabben und Hexen


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Die meisten Reisenden in Norwegen kommen nur bis zum Nordkap. Östlich davon erstreckt sich das Land am Eismeer voller Geschichten und Geheimnisse.

Keine Besuchermassen
wie am Nordkap

„Bitte keinen Meter weiter, dann sind Sie bereits in Russland“, so mahnt Hans Hatle (71) die Ausflügler im Touristencamp Boris Gleb. Vor über 20 Jahren hat der Mann aus Kirkenes den Logenplatz am Pasvikfluss direkt neben den Grenzpfählen errichtet, von Jahr zu Jahr wurde die Holzhütte erweitert. Heute kann er dort gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Nicole Merten (44) aus Hamburg mehreren Dutzend Gästen die Spezialität der Region auftischen: Königskrabben aus der Barentssee.
In den 1960er-Jahren wanderten die von russischen Forschern im Meer vor Murmansk ausgesetzten Königskrabben nach Westen und vermehrten sich stark. „Anfangs sahen unsere Fischer die Invasion der Krabben als Katastrophe an und fürchteten um ihre Existenz“, erzählt Hatle. Die Sorgen sind längst vorbei: Königskrabben werden nicht nur als Delikatesse bei Bootsausflügen den Touristen serviert. Nicole und Hans bieten mit ihrer Barentssafari im Sommer regelmäßig Königskrabbenverkostungen an.


Fischereigenossenschaften in Kirkenes und den kleinen Küstendörfern vermarkten die bis zu 17 Kilo schweren Monsterkrabben als kostbare Delikatesse nach Asien. Nach Singapur und Südkorea kommen die Schalentiere als Luftfracht. Etwa 1.300 Tonnen Königskrabben dürfen laut Hatle in Norwegen aufgrund der Fangquote jährlich in die Netze gehen: „Auf dem Fischmarkt in Bergen kostet das Kilo rund 130 Euro, in Singapur 400 Euro.“
Sie leben gut mit und von den Königskrabben in Kirkenes, über 60 Nationalitäten in der 3.500 Einwohner-Hafenstadt am Endpunkt der legendären Hurtigruten-Postschifflinie. Straßenschilder auf Norwegisch, Finnisch und Russisch sind auffällig, schließlich ist die Grenze zur Russischen Föderation nur zehn Autominuten entfernt. Es ist der Endpunkt der E 6, die mit über 3.000 Kilometer als längste Europastraße in Skandinavien im südschwedischen Trelleborg beginnt.

Faszinierende Landschaften

Norwegen erstreckt sich noch weiter ostwärts: 60 Kilometer über die buckelige Landstraße 886 durch die Einsamkeit bis zur Grense Jakobselv: Stahlblaues Eismeer, ein winziger Sandstrand und der Hinweis, dass der Nordpol von hier aus lediglich 2.331 Meter entfernt sei, Norwegens Hauptstadt aber 2.538 Kilometer!
Wer die Landschaft aus arktischer Küste, Tundra und Taiga erleben will, steuert über die wenig befahrenen Europastraßen E 6/E 75 entlang des Varangerfjordes die Nationale Landschaftsroute Varanger nach Vardø an. Sie ist eine der 18 norwegischen Landschaftsrouten, die ab 1994 von der Straßenverwaltung ausgeschildert wurden. Alle Strecken haben diese Merkmale: Sie erschließen faszinierende Landschaften; ihre Rastplätze sind nicht einfach Parkplätze sondern punkten mit herausragender Architektur. Wie die Varangerstraße zählt beispielsweise auch der viel befahrene, kurvige Trollstigen (Troll-Leiter) zwischen Geiranger und Åndalsnes zu diesen »Nasjonale Turistveger«.
Natur und Kultur an der Varangerstraße, die am Parkplatz Gorgŋetak beginnt. Gorgŋetak ist samisch, das bedeutet Aufstieg und steht symbolhaft für den Beginn der Strecke, die nach 160 Kilometern im verlassenen Fischerdorf Hamningberg enden wird.
In Vadsø machen heute die Schiffe der Hurtigrute fest. Die Luftschiffe Norge (Polarforscher Amundsen, Ellsworth, Nobile 1926) und Italia (Nobile 1928) legten hier Zwischenstopps ein, bevor sie von einer weiteren Station in Ny-Ålesund auf Spitzbergen zum Nordpol starteten. In Vadsø blieb der Ankermast der Zeppeline als Erinnerung erhalten.


Immer einsamer wird die Landschaft. Kühe grasen auf kleinen Weidestücken, Schafe und Rentiere kreuzen plötzlich die Fahrbahn. Dorschköpfe sind zum Trocknen an Holzgestellen befestigt.
Schließlich der Zwischenstopp in der Fischerstadt Vardø, auf einer Insel gelegen und erreichbar durch die 2,8 Kilometer lange Tunnelröhre. Norwegens erster Unterwassertunnel, 1983 eröffnet. Vardø – ein sterbender Ort? Verlassene Häuser und vergammelte Holzfassaden deuten daraufhin. Radarkuppeln bestimmen das Bild des Ortes. Über 4.000 Menschen lebten mal in Vardø, heute kaum mehr als 2.000. Denn mit der Finanzkrise im Jahr 2009 kam auch die Fischerei in der arktischen Stadt ins Schwimmen.
Doch wenn es nach Tormod Amundsen (42) geht, dann bestehen Chancen für eine bessere Zukunft. Der Architekt und passionierte Hobby-Ornithologe entwirft in seinem Büro am Hafen moderne Schutzhütten für Vogelbeobachter. Die kommen mittlerweile in Scharen zwischen März und Juni, vor allem aus England und Finnland, aber vermehrt auch aus Deutschland, Holland und Dänemark. Vardø und vor allem die vorgelagerte Insel Hornøya sind wahre Hotspots zur Beobachtung zigtausender Trottellummen, Eiderenten, Papageientaucher, Kormorane und Dreizehenmöwen. „Ich setze auf diesen Ökotourismus. Wir wollen keine Besuchermassen wie am Nordkap“, so Amundsen.
Manch einer kommt nach Vardø, um zwei kulturelle Höhepunkte zu sehen: die nördlichste Festung der Welt, bereits um das Jahr 1300 errichtet. Das achteckige Bollwerk ähnelt einer Vauban-Festung und ist auch heute noch immer Militäranlage, von Soldaten der norwegischen Streitkräfte in spezieller Mission bewacht und gepflegt.
Hinter deren wehrhaften Mauern fanden im 17. Jahrhundert zahlreiche Hexenprozesse statt: Anne, Lisbet, Karen und Ragnhilde, insgesamt 77 Frauen und 14 Männer, wurden zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. An ihre tragischen Schicksale erinnert das Hexenmahnmal, geschaffen vom Schweizer Stararchitekten Peter Zumthor mit einer Installation der französisch-amerikanischen Bildhauerin Louise Bourgeois – mahnend und beklemmend. Am Ufer des Eismeers und am Rand von Vardø, dem sterbenden Fischerort mit Chancen für eine bessere Zukunft.
Immerhin heißt das Kino von Vardø »Aurora« – Göttin der Morgenröte, am Himmel im Osten, vor Sonnenaufgang.

Info

Kirkenes und Vardø sind im äußersten Nordosten von Norwegen nahe der russischen Grenze. Vardø ist Norwegens östlichste Stadt und liegt auf einem östlicheren Längengrad als St. Petersburg und Istanbul.

Anreise

Mit dem Flugzeug über Oslo nach Kirkenes (SAS und Norwegian), von dort mit dem Leihwagen (E 6/E 75) Richtung Vardø (etwa 250 Kilometer).

Mit dem Auto über Kopenhagen, Malmö, Umea, Skellefteå, Haparanda, Rovaniemi, Inari und Neiden bis Kirkenes
(E 4/E 75/L 971 etwa 2.200 Kilometer ab Malmö).

Unterwegs mit dem Auto: Tagsüber Abblendlicht. Tempolimit: 80 km/h Landstraße; 50 km/h in Orten.
Promillegrenze: 0,2.

Web

nordnorge.com
avinor.no/en/airport/kirkenes-airport
www.nasjonaleturistveger.no/de/routen/varanger
www.visitnorway.de
www.barentssafari.no/de
www.varanger.net
www.biotope.cloud
www.varangermuseum.no/de

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