Autopioniere im Südwesten:


0

1945 – Kriegsende. Es keimt Hoffnung im zerstörten Deutschland. Die Menschen sehnen sich nach Freiheit, nach Mobilität. Es schlägt die Stunde von Technikern, Ingenieuren, oft kommen sie aus der Flugtechnik. Sie grübeln, wie man mit möglichst geringen Mitteln Fortbewegungsapparate auf die Räder stellen kann. Für viele ist es pure Not. Nach Ende des Krieges wollen sie Fuß fassen, auf einem jungen, kaum eroberten Markt. Das gilt auch für einen Autopionier, der sich nach dem Krieg einen Namen macht: Arthur Hurst, man nennt ihn auch den »Retter der Versehrten«.

Der Arm und Beinamputierte Werner Toberer ist einer der bekanntesten Kunden

Im Deutschland der Nachkriegszeit hat man sich an den Anblick vieler Menschen gewöhnt, die an der Front Arme oder Beine verloren hatten. Den früheren Daimler-Ingenieur aus Untertürkheim bringt das auf eine Idee. Hurst will für Kriegsversehrte ein Auto bauen, bequemer als die primitiven Rollbretter, auf die Versehrte oft angewiesen waren.


Die Voraussetzungen sind 1946 allerdings nicht einfach: Stahl gibt es nur gegen Bezugsscheine, die Besatzer haben jeden Autobau verboten. Doch Hurst ist wild entschlossen.
Seine Idee fest im Blick, tüncht er die Garage im Haus der Schwiegereltern mit weisser Farbe und zeichnet eine Konstruktion im Maßstab 1 zu 1 an die Wand. Für Papier hat er kein Geld.
Auch beim Bau des Prototypen muss Hurst improvisieren, sein NSU-Motorrad schlachten, Kriegsschrott verwenden. Das Resultat: ein anfangs unverkleidetes Gefährt, mit Rohrrahmen, vier Rädern, Kettenantrieb. 1949 beginnt Arthur Hurst mit 12 Mann Belegschaft in einer alten Zwangsarbeiterbaracke in Untertürkheim mit der Einzelfertigung, in Handarbeit.
In der Nähe von Mannheim treffen wir Bert Grimmer. Er besitzt die wahrscheinlich größte Sammlung von historischen Versehrtenautos weltweit. Grimmer war früher Orthopädiemeister, ein Spezialist für Fahrzeugumbauten für Menschen mit Behinderungen. Solche fahrbaren Krankenfahrstühle wurden oft vernichtet, wenn die Besitzer starben, im Glücksfall wurden sie weggestellt und vergessen.
Genau so ein Modell besitzt Grimmer. Einen Hurst 250, Baujahr 1949, einer der ersten, im Originalzustand. Ein höchst skurril anmutendes Gefährt, mit Stoffverdeck. Primitiv, putzig, fast so, als sei es aus dem Fuhrpark von Walt Disney. Die kantige Form ist dem Umstand geschuldet, dass das Auto ohne Presswerkzeuge herzustellen war. Der Hurst sollte erschwinglich sein, nicht teurer als ein Motorrad mit Beiwagen. Und ganz ähnlich wird er auch bedient. Beine benötigte man nicht. Sämtliche Steuerelemente werden vom Fahrradlenker aus bedient. Schiebt man die Lenkstange nach vorne, wird beschleunigt, zieht man sie zurück, bremst das Auto. 1946 hatte Hurst für das Konzept Gebrauchsmusterschutz beantragt und nur ein Jahr darauf bereits einen Prototypen fertig.

Äußerst spartanisch
aber höchst zweckmäßig

Heute weiß man: es haben nur drei Fahrzeuge überlebt, von den rund 50 Exemplaren, die in Serie entstanden, zunächst in Stuttgart, dann in Mannheim. Im Heck befindet sich der Motor: ein ILO-Zweitakter mit 250 Kubik Hubraum, Leistung 6 PS und Kettenantrieb auf das linke Hinterrad. Frühe Versuchswagen waren noch mit einem
97 ccm Aggregat von NSU ausgestattet, mit schmalen 2 PS.
Grimmer berichtet, das Auto habe einem beinamputierten Feinmechaniker aus Ludwigshafen gehört, der 2002 im Alter von 94 Jahren starb. Seit 1951 stand der Hurst in einer Scheune, aufgebockt, eingestaubt. Grimmer war der Hurst quasi in den Schoß gefallen. Nach dem Tod des Urgroßvaters sollte die Remise geräumt werden. Über das, was die Nachkommen da entdeckten, waren sie selbst überrascht. Man informierte umgehend den in der Region bekannten Sammler über den interessanten Fund. Der Zustand: fantastisch, authentisch, weil das Autochen über Jahrzehnte trocken stand, quasi rostfrei war. „Als das Tor aufging und ich das Fahrzeug sah“, erzählt Grimmer, noch immer ergriffen, „verkrampfte sich was im Sammlerherz, man will’s nicht wahrhaben, das ist wie ein Traum, und dann das Auto rauszuziehen, Luft aufzupumpen, in aller Größe anzuschauen, das hat was Erhabenes.“ Die Tochter der Verstorbenen erinnert sich, dass der Vater im Hurst einst bis nach Hamburg gefahren sei. In Anbetracht von 60 km/h Höchstgeschwindigkeit und fehlenden Stoßdämpfern eine wahre Heldentat. Dennoch hatte der Besitzer den Hurst nach nur zwei Jahren weggestellt und nie mehr gefahren. Warum? Weiß niemand. Auch nicht wie viele Kilometer er zurückgelegt hatte in der kurzen Zeit. Auf einen Tachometer mit Zähler hatte der Erbauer aus Kostengründen verzichtet.
Wer war dieser Arthur Hurst, der 1985 starb, den Autobau bereits 1950, nach nur einem Jahr Fertigung, wieder aufgab? Immerhin gab es allein in den Westzonen mehr als 1,7 Millionen Versehrte. Ein einträgliches Geschäft? Wieso das Scheitern nach so kurzer Zeit?
In Stuttgart treffen wir Annemie Günthner, die Tochter von Arthur Hurst. Ihr Vater, erzählt sie, war nach dem Krieg arbeitslos. Die Selbstständigkeit war folglich der Not geschuldet. Der Hurst Wagen sollte Wegbereiter sein für eine Karriere als Unternehmer.

Anfangs läuft es nicht schlecht für Arthur Hurst

Die Versorgungsanstalt hilft mit Empfehlungsschreiben, sichert schwerbehinderten Käufern zinslose Darlehen zu. Ein Mannheimer Unternehmen steigt als Lizenznehmer ein. Dennoch: der Hurst-Wagen erweist sich als zu aufwändig, er wirft keine Gewinne ab. Mit der Währungsreform platzt Arthurs Traum von der Autoproduktion, nach nur 49 Exemplaren. Die Reform hatte Sparer wie Hurst praktisch über Nacht enteignet. Zwar gibt es Aufträge, sogar aus Portugal und Griechenland. Der Hurst Wagen hatte sich dank der überwiegend positiven Rezeption in der internationalen Presse schnell herumgesprochen. Aber Hurst kann die Bestellungen nicht bedienen. Ein Problem: die Landesversicherungsanstalt hatte die Subventionen mit der Voraussetzung verknüpft, dass das Auto nicht mehr als 3.000 Mark kosten dürfe. Allerdings: zu diesem Preis ist das Vehikel weder in Stuttgart, noch vom Mannheimer Lizenznehmer annähernd kostendeckend herzustellen. Der Konkurs: unvermeidlich.

Ein Geschenk des Himmels

Geblieben sind heute nur noch die Erinnerungen derer, die den Pionier zu Lebzeiten kannten, oder Kunden waren. So wie ein Käufer aus Monheim in Bayern, dessen handschriftliches Schreiben wir in einer Familien-Akte finden. Ein Dankesbrief an Arthur Hurst vom November 1949. „Meine Behinderung ist so schwer“, heißt es dort in brüchiger Schrift, „dass mich meine Mutter bis zur 5. Volksschulklasse täglich zur Aufnahme in die Landesschule für krüppelhafte Kinder tragen musste. Heute beneiden mich die Leute, wenn sie mich früher als einen bedauernswerten Krüppel ansahen, bereits um meinen Wagen. Er ist wirklich für einen Körperbehinderten ein Geschenk des Himmels.“
Sein Traum mag nicht in Erfüllung gegangen sein. Hurst ist letztlich mit seinem Vorhaben, ein Automobilproduzent zu sein, gescheitert. Aber er hat manchen Kriegsversehrten mit seiner Erfindung ein besseres Leben beschert. Auch wenn es nicht viele seien mögen, seine Leistung ist eine Pioniertat, die Würdigung verdient.

Fotos Thorsten Link

Weitersagen

Klicken Sie auf den unteren Button, um die Grafiken von Add To Any zu laden.

Inhalt laden

Share